DAS HAUS DES LEBENS

1

Zu jener Zeit waren die Ammonpriester Thebens allein befugt, den höheren Unterricht zu erteilen. Niemand durfte sich ohne priesterliches Eintrittsgeld den für ein höheres Amt notwendigen Studien widmen. Jedermann wird verstehen, daß das Haus des Lebens und das Haus des Todes wie auch die eigentliche theologische Hochschule zur Ausbildung höherer Priester seit Urzeiten in den Bereich des Tempels gehörten. Man kann auch noch verstehen, daß die mathematische und astronomische Fakultät der Machtbefugnis der Priester unterstellt waren. Nachdem diese aber auch die juristische und die merkantile Ausbildung in die Hand nahmen, regte sich in den gebildeten Kreisen allmählich der Verdacht, die Priester mischten sich in Dinge ein, die eigentlich dem Pharao und der Steuerbehörde zuständen. Wohl wurde die Priesterweihe von den Schülern des Handels und der Rechte nicht ausdrücklich verlangt; doch da Ammon mindestens ein Fünftel des Landes Ägypten und somit auch dessen Handel beherrschte, tat ein jeder, der ein Großkaufmann werden oder in die Verwaltung eintreten wollte, gut daran, auch das Priesterexamen des untersten Grades abzulegen, um sich damit Ammon als gehorsamer Diener zu unterstellen.

Die weitaus größte Fakultät war natürlich die juristische, denn sie sicherte den Studierenden die Zuständigkeit für jedes Amt und die Berechtigung, später im Steuerwesen und in der Verwaltung tätig zu sein oder die militärische Laufbahn zu beschreiten. Die kleine Schar der Astronomen und Mathematiker lebte ihr eigenes weltfremdes Leben in ihren Hörsälen und hegte eine tiefe Verachtung für die Emporkömmlinge, die in die Vorlesungen über Handelsrechnungen und Vermessungskunst eilten. Ein ganz abgesondertes Leben innerhalb der Tempelmauern aber wurde im Haus des Lebens und im Haus des Todes geführt. Diesen Schülern brachten alle anderen Zöglinge des Tempels eine mit Schrecken vermischte Ehrfurcht entgegen.

Doch ehe ich meinen Fuß in das Haus des Lebens setzen durfte, hatte im erst an der theologischen Fakultät eine Prüfung für den untersten Priestergrad abzulegen. Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis im so weit war, denn ich mußte gleichzeitig meinen Vater auf seinen Krankenbesuchen begleiten, um aus seiner Erfahrung Lehren für meine künftige Lebensbahn zu ziehen. Ich wohnte zu Hause und lebte wie zuvor, mußte aber täglich irgendeine Vorlesung besuchen.

Diejenigen, die die Prüfung für den untersten Priestergrad ablegen mußten, waren je nach den Studien, denen sie sich später widmen wollten, in Gruppen eingeteilt. Wir, die künftigen Zöglinge im Haus des Lebens, bildeten eine eigene Gruppe, doch fand ich keinen einzigen intimen Freund unter meinen Kameraden. Ich hatte Ptahors klugen Rat in frischem Gedächtnis, lebte zurückgezogen, gehorchte untertänig jedem Befehl und stellte mich einfältig, wenn andere Witze machten oder nam Knabenart die Götter schmähten. Unter uns gab es Söhne vornehmer Spezialisten, deren Krankenbesuche, Ratschläge und Pflege mit Gold bezahlt wurden. Es gab auch Söhne einfacher Provinzärzte, oft älter als wir, bereits erwachsene, plumpe, braungebrannte Jünglinge, die ihre Schüchternheit zu verbergen und sich die Aufgaben gewissenhaft einzuprägen trachteten. Es gab auch Knaben aus dem Proletariat, die einen angeborenen Wissensdurst besaßen und sich über die Berufe und den Stand ihrer Väter emporarbeiten wollten. Diese aber waren der strengsten Behandlung und den größten Anforderungen unterworfen, denn die Priester hegten ein natürliches Mißtrauen gegen alle, die sich nicht mit ihrem Los zufrieden gaben.

Meine Vorsicht war mir nützlich, denn bald genug entdeckte ich, daß die Priester Spione und Gehilfen unter uns hatten. Ein unvorsichtiges Wort, ein offen ausgesprochener Zweifel oder ein Scherz im Kreise der Kameraden gelangte den Priestern rasch zur Kenntnis, und der Schuldige wurde zum Verhör geladen und bestraft. Es kam vor, daß Jünglinge sich der Prügelstrafe unterziehen mußten oder gar aus dem Tempel verjagt wurden, worauf ihnen das Haus des Lebens wohl in Theben wie an anderen Orten Ägyptens für alle Zeiten verschlossen blieb. Wenn sie energisch waren, konnten sie als Handlanger der Garnisonsfeldschere in die Kolonien ziehen oder sich im Lande Kusch oder in Syrien eine Zukunft schaffen, denn der Ruf der ägyptischen Ärzte war über die ganze Welt verbreitet. Die meisten aber strandeten und endeten als unbedeutende Schreiber, falls sie die Schreibkunst genügend beherrschten.

Meine Fertigkeit im Schreiben und Lesen gab mir einen guten Vorsprung vor manchen Kameraden, sogar vor den älteren. Ich selbst hielt mich für reif zum Eintritt in das Haus des Lebens, aber der Tag meiner Weihe ließ auf sich warten, und ich besaß nicht den Mut, nach dem Grund der Verzögerung zu fragen, weil das als Aufsässigkeit gegen Ammon ausgelegt worden wäre. Ich vergeudete meine Zeit mit dem Abschreiben von Todesbüchern, die in den Vorhallen des Tempels verkauft wurden, und empörte mich im stillen und fühlte mich niedergeschlagen. Bereits hatten viele meiner weniger begabten Kameraden ihre Studien im Haus des Lebens aufnehmen dürfen. Doch vielleicht erhielt ich unter meines Vaters Leitung eine bessere Vorbildung als sie. Später habe ich eingesehen, daß die Priester Amnions mir an Klugheit überlegen waren. Sie durchschauten mich, erkannten meinen Trotz und meine Zweifel und wollten mich daher prüfen.

Schließlich erhielt ich den Bescheid, daß ich an der Reihe sei, im Tempel zu wachen. Eine Woche lang mußte ich in den inneren Räumen wohnen und durfte während dieser Zeit das Gebiet des Tempels nicht verlassen. Ich sollte mich reinigen und fasten. Mein Vater beeilte sich, meine Knabenlocke abzuschneiden und unsere Nachbarn zu einem Gastmahl einzuladen, um den Tag meiner Mannesreife zu feiern. Da ich bereit zur Priesterwürde war, würde ich – wie schlicht und unbedeutend diese Zeremonie in Wirklichkeit auch sein mochte – künftig als Erwachsener betrachtet werden. Denn diese Weihe stellte mich über meine Nachbarn wie auch über meine Gleichaltrigen.

Kipa hatte ihr Bestes getan, aber die Honigkuchen schmeckten mir nicht. Ich fand keine Freude an der Ausgelassenheit und den derben Scherzen unserer Nachbarn. Am Abend, als die Gäste gegangen waren, griff meine Niedergeschlagenheit auch auf Senmut und Kipa über. Senmut begann die Geschichte meiner Geburt zu erzählen, wobei ihn Kipa an manches wieder erinnern mußte. Ich betrachtete das über ihrem Bett hängende Binsenboot. Seine rauchgeschwärzten brüchigen Stellen verursachten mir Herzweh. Ich besaß keinen richtigen Vater und keine richtige Mutter auf Erden. In einer großen Stadt war ich einsam unter den Sternen. Vielleicht war ich bloß ein elender Fremdling im Lande Kêmet. Vielleicht war meine Herkunft ein schmachvolles Geheimnis.

Als ich mit dem Weihegewand, das Kipa mir mit viel Sorgfalt und Liebe angefertigt hatte, zum Tempel ging, trug ich eine Wunde im Herzen.

2

Wir waren fünfundzwanzig Jünglinge und jüngere Männer, die sich zur Weihe vorstellten. Nachdem wir im Tempelteich gebadet hatten, wurde uns das Haar abrasiert, und wir legten grobe Gewänder an. Der Priester, der uns weihen sollte, war nicht kleinlich. Nach altem Brauch hätte er uns manch demütigender Zeremonie unterziehen können, aber unter uns befanden sich einige vornehme Knaben sowie einige Rechtskundige, die ihre Prüfung bereits bestanden hatten, erwachsene Männer, die in den Dienst Ammons traten, um ihre Laufbahn zu sichern. Sie hatten reichlich Proviant mitgebracht und boten den Priestern Wein an, und mehrere von ihnen entwichen nachts in die Freudenhäuser, denn für sie bedeutete die Priesterweihe nichts Erhabenes. Ich wachte mit wundem Herzen, und vielerlei Gedanken zogen durch meinen bitteren Sinn. Ich begnügte mich mit einem Stück Brot und einem Becher Wasser, wie es der Brauch verlangte, und harrte voller Hoffnungen und düsterer Ahnungen der kommenden Dinge.

Ich war noch so jung, daß ich unsäglich gerne glauben wollte. Es wurde behauptet, daß Ammon sich bei der Weihe jedem Priesterkandidaten offenbare und zu ihm spreche. Für mich hätte es eine unbeschreibliche Erleichterung bedeutet, mich von mir selbst befreien und einen Sinn hinter allem ahnen zu können. Doch vor einem Arzt ist selbst der Pharao nackt. In meines Vaters Begleitung hatte ich schon als Junge Krankheit und Tod gesehen. Mein Blick hatte sich geschärft, ich sah mehr als meine Gleichaltrigen. Einem Arzt darf nichts zu heilig sein, noch darf er sich vor etwas anderem als vor dem Tod beugen, lautete meines Vaters Lehre. Deshalb zweifelte ich, und alles, was ich in den drei Jahren im Tempel gesehen, hatte meine Zweifel noch genährt.

Aber, dachte ich, vielleicht befindet sich hinter dem Vorhang, im Dunkel des Allerheiligsten, doch etwas, das mir unbekannt ist. Vielleicht wird Ammon sich mir offenbaren und meinem Herzen Frieden schenken.

An all das dachte ich, während ich den Tempelgang durchstreifte, zu dem auch Laien Zutritt hatten. Ich betrachtete die farbenfrohen heiligen Bilder und las die Inschriften, die berichteten, welch unermeßliche Gaben die Pharaonen aus ihren Kriegen Ammon als göttlichen Beuteteil gebracht hatten. Da stieß ich plötzlich auf ein schönes Weib, dessen Gewand aus dünnstem Leinen war und Brust und Lenden durchscheinen ließ. Sie war von aufrechter schlanker Gestalt, und ihre Lippen, Wangen und Augenbrauen waren gefärbt. Neugierig und ohne Scheu betrachtete sie mich.

»Wie ist dein Name, schöner Jüngling?« fragte sie und sah mit ihren grünen Augen auf mein graues Achselgewand, von dem ersichtlich war, daß ich mich für die Weihe vorbereitete.

»Sinuhe«, antwortete ich verwirrt und wagte nicht, ihren Augen zu begegnen. Doch sie war so schön, und so seltsam duftete das Öl, das auf ihrer Stirne glänzte, daß ich hoffte, sie würde mich zum Wegweiser im Tempel ausersehen. Solches geschah den Schülern des Tempels nämlich öfters.

»Sinuhe«, wiederholte sie nachdenklich und sah mich forschend an. »Du erschrickst also leicht und fliehst, wenn man dir ein Geheimnis anvertrauen will?«

Sie spielte auf die Sage von Sinuhes Abenteuer an, und das ärgerte mich, denn mit dieser Erzählung hatte man mich bereits in der Schule oft genug gereizt. Deshalb richtete ich mich auf und sah ihr gerade in die Augen, und ihr Blick war so seltsam und neugierig und klar, daß mein Gesicht zu glühen begann und mein ganzer Leib mit Feuer übergossen wurde.

»Warum sollte ich mich fürchten?« sagte ich. »Ein künftiger Arzt fürchtet keine Geheimnisse.«

»Ah?« meinte sie lächelnd. »Das Küken piepst bereits, ehe es seine Schale gesprengt hat. Ist unter deinen Kameraden ein Jüngling namens Metufer? Er ist der Sohn eines königlichen Baumeisters.«

Metufer war es, der den Priester mit Wein aufgefüllt und ihm als Weihegeschenk einen goldenen Armreifen überreicht hatte. Ich verspürte einen Stich, verriet aber, daß ich Metufer kannte, und bot mich an, ihn zu holen. Ich dachte, das Weib sei vielleicht seine Schwester oder sonst eine Verwandte von ihm. Dieser Gedanke brachte mir Erleichterung, und ich blickte ihr kühn in die Augen und lächelte.

»Doch wie soll ich ihn holen, da ich deinen Namen nicht kenne und nicht sagen kann, wer ihn rufen läßt?« wagte ich zu fragen.

»Er weiß es schon«, sagte das Weib und stampfte ein paarmal leicht, aber ungeduldig mit ihrer mit bunten Steinen verzierten Sandale auf den Steinboden. Ich betrachtete ihre kleinen Füße, die nicht von Staub beschmutzt und deren schöne Nägel leuchtend rot gefärbt waren. »Er weiß schon, wer ihn rufen läßt. Vielleicht ist er mir etwas schuldig. Vielleicht weilt mein Mann auf Reisen, und ich erwarte Metufer, um mich in meiner Einsamkeit zu trösten.«

Bei dem Gedanken, daß sie eine verheiratete Frau sein könnte, wurde mir wieder schwer ums Herz. Dennoch sprach ich kühn: »Wohlan, schöne Unbekannte! Ich werde ihn holen gehen. Ich werde ihm sagen, daß ein Weib, jünger und schöner als die Mondgöttin, ihn rufen läßt. Dann weiß er, wer es ist, denn wer dich einmal gesehen hat, kann dich sicher nie vergessen.«

Erschrocken ob meiner eigenen Kühnheit wandte ich mich zum Gehen, sie aber faßte mich beim Arm und sagte nachdenklich: »Du hast es aber eilig! Warte noch ein wenig, vielleicht haben wir beide uns noch etwas zu sagen.«

Wieder blickte sie mich an, daß das Herz in meiner Brust zerging. Dann streckte sie ihre von Ringen und Armbändern beschwerte Hand aus, beruhte meinen Schädel und fragte freundlich: »Friert dies schöne Haupt nicht, nachdem die Knabenlocke soeben erst dem Messer zum Opfer fiel?« Und sogleich fügte sie sanft hinzu: »Sprichst du die Wahrheit? Findest du mich wirklich schön? Sieh mich genauer an!«

Ich sah sie an, und ihr Gewand war aus königlichem Linnen. Sie war schön in meinen Augen, schöner als alle Frauen, die ich je gesehen hatte, und sie tat wahrlich nichts, um ihre Schönheit zu verbergen. Ich sah sie an und vergaß die Wunde in meinem Herzen, vergaß Ammon und das Haus des Lebens, und ihre Nähe brannte meinen Leib wie Feuer.

»Du gibst mir keine Antwort«, sagte sie betrübt. »Du brauchst auch nicht zu antworten, denn in deinen schönen Augen bin ich sicher ein altes häßliches Weib, das dich nicht erfreuen kann. So geh und hole den zur Weihe bereiten Jüngling Metufer, dann bist du mich los.« Aber ich ging nicht und wußte auch nichts zu sagen, obgleich ich gut verstand, daß sie mich zum besten hielt. Schatten lagen zwischen den Riesensäulen des Tempels. Ihre Augen glänzten in dem matten, durch ein fernes Gitterwerk aus Stein hereindringenden Dämmerschein, und niemand sah uns.

»Vielleicht brauchst du ihn nicht zu holen«, sprach das Weib und lächelte mich an. »Vielleicht genügt es mir, wenn du mich erfreust und mit mir der Liebe genießest, denn sonst besitze ich niemanden, der mich ergötzen könnte.«

Da entsann ich mich der Worte Kipas über Frauen, die schöne Knaben an sich locken, um sich ihrer zu erfreuen. So plötzlich tauchte diese Warnung vor mir auf, daß ich erschrak und einen Schritt zurückwich.

»Das konnte ich mir denken, daß Sinuhe erschrecken würde«, sagte das Weib und folgte mir. Ich aber hob ängstlich die Hand, um sie zurückzustoßen, und sagte:

»Ich weiß schon, wer du bist. Dein Mann ist verreist, dein Herz ist eine trügerische Falle, und dein Schoß brennt schlimmer denn Feuer.« Doch obgleich ich dieses sagte, vermochte ich nicht zu fliehen.

Sie schien ein wenig verwirrt, doch dann lächelte sie von neuem und trat ganz dicht an mich heran. »Das also glaubst du?« fragte sie sanft. »Aber es ist nicht wahr. Mein Schoß brennt nicht wie Feuer, man behauptet im Gegenteil, daß er erquickend sei. Fühle selbst!« Sie nahm meine willenlose Hand und führte sie in ihren Schoß, und ich wurde durch den dünnen Stoff ihrer Schönheit inne, so daß ich zitterte und meine Wangen glühten. »Du glaubst es wohl immer noch nicht«, sagte sie mit gespielter Enttäuschung. »Der Stoff hindert dich, aber warte, ich werde ihn zurücklegen.« Sie öffnete ihr Gewand und legte meine Hand auf ihre entblößte Brust, so daß ich das Pochen ihres Herzens spürte, aber ihre Brust war weich und kühl in meiner Hand.

»Komm, Sinuhe«, sagte sie mit leiser Stimme. »Komm mit mir, wir wollen Wein trinken und der Liebe genießen.«

»Ich darf das Tempelgebiet nicht verlassen«, sagte ich erschrocken und schämte mich meiner Feigheit und begehrte sie und fürchtete sie doch wie den Tod. »Ich muß mich rein erhalten, bis ich geweiht werde, sonst werde ich aus dem Tempel vertrieben und erhalte niemals Zutritt in das Haus des Lebens. Darum habe Erbarmen mit mir!« Dies sagte ich, weil ich wußte, daß ich ihr folgen würde, falls sie mich noch einmal darum bäte. Sie aber war ein erfahrenes Weib, das meine Not verstand. Deshalb blickte sie sich nachdenklich um. Wir sprachen immer noch unter vier Augen miteinander, doch in der Nähe bewegten sich Menschen, und ein Führer erläuterte mit lauter Stimme die Sehenswürdigkeiten des Tempels und bettelte bei den Fremden um Kupfer, mit dem Versprechen, ihnen weitere Wunder zu zeigen.

»Du bist ein äußerst schüchterner Jüngling, Sinuhe«, sagte sie. »Die Vornehmen und Reichen bieten mir Schmuck und Gold an, damit ich sie einladen soll, mit mir der Lust zu pflegen. Du, Sinuhe, aber willst rein bleiben.«

»Du möchtest doch, daß ich Metufer hole«, sagte ich verzweifelt, denn ich wußte, daß Metufer nicht zögern würde, für die Nacht aus dem Tempel zu entweichen, obgleich er an der Reihe war, Wache zu halten. Er konnte es sich erlauben, denn sein Vater war königlicher Baumeister. Ich hätte ihn deswegen umbringen können.

»Vielleicht wünsche ich nicht mehr, daß du Metufer holst«, sagte sie und blickte mir schelmisch in die Augen. »Vielleicht wünsche ich, daß wir als Freunde auseinandergehen, Sinuhe. Deshalb will ich dir auch meinen Namen anvertrauen, er lautet Nefernefernefer, denn man findet mich schön, und jeder, der einmal meinen Namen ausgesprochen hat, muß ihn ein zweites und ein drittes Mal wiederholen. Auch ist es Sitte, daß Freunde sich beim Abschied gegenseitig beschenken, um einander nicht zu vergessen. Deshalb verlange ich ein Geschenk von dir.«

Da fühlte ich von neuem meine Armut, denn ich hatte ihr nichts zu geben, nicht den geringsten Schmuck oder kleinsten Kupferring, den ich ihr auch niemals hätte anbieten dürfen. Ich schämte mich so bitterlich, daß ich mein Haupt sinken ließ, ohne etwas sagen zu können.

»So mache mir ein Geschenk, das mein Herz erquickt«, sprach sie, hob mein Kinn mit einem Finger und näherte ihr Gesicht dem meinen. Da verstand ich, was sie wollte, und berührte mit meinen Lippen ihre weichen Lippen. Sie seufzte leicht und sagte:

»Danke, Sinuhe, das war ein schönes Geschenk. Ich werde es nie vergessen. Doch sicher bist du ein Fremdling aus fernem Lande, da du noch nicht küssen kannst. Wie wäre es sonst möglich, daß die Mädchen Thebens dich diese Kunst noch nicht gelehrt hätten, da dein Knabenhaar bereits abgeschnitten ist.« Sie zog einen Ring von ihrem Daumen, der aus Gold und Silber war mit einem ungravierten grünen Stein, und steckte ihn an meine Hand. »Auch ich will dir ein Geschenk geben, Sinuhe, damit du mich nicht vergessen sollst«, sagte sie. »Wenn du geweiht bist und in das Haus des Lebens kommst, kannst du dein Siegel in diesen Stein schneiden lassen, dann wirst du den Reichen und Vornehmen ebenbürtig. Doch denke auch daran, daß er grün ist, weil mein Name Nefernefernefer lautet und weil man einst behauptet hat, meine Augen seien grün wie der Nil in der Sommerhitze.«

»Ich kann deinen Ring nicht annehmen, Nefer«, sagte ich und wiederholte »Nefernefer«, und die Wiederholung ihres Namens bereitete mir unsäglichen Genuß. »Trotzdem werde ich dich nie vergessen.«

»Dummer Junge«, sagte sie. »Behalte den Ring, denn das ist mein Wunsch! Behalte ihn um meiner Laune willen, denn er wird mir einst hohe Zinsen eintragen.« Sie drohte mir mit dem Finger, und ihre Augen lachten, als sie hinzufügte: »Nimm dich auch stets in acht vor Frauen, deren Schoß schlimmer als Feuer brennt.« Sie wandte sich zum Gehen und gestattete mir nicht, sie zu begleiten. Durch die Tempeltür sah ich sie im Hof eine reich › verzierte Sänfte besteigen. En Läufer lief vor ihr her und bahnte ihr unter lauten Rufen den Weg, und die Menschen wichen zur Seite und blickten flüsternd der Sänfte nach. Doch kaum war sie gegangen, da überfiel mich ein unsägliches Gefühl der Leere, als wäre ich in eine dunkle Kluft gestürzt.

Wenige Tage später entdeckte Metufer den Ring an meinem Finger und griff mißtrauisch nach meiner Hand, um ihn zu betrachten. »Oh, ihr vierzig gerechten Paviane des Osiris!« rief er aus. »Nefernefernefer, oder wie? Das hätte ich dir niemals zugetraut.« Er sah mich fast respektvoll an, obwohl der Priester mich zum Reinigen der Böden und zu den niedrigsten Arbeiten im Tempel eingesetzt hatte, weil ich ihm keine Gabe mitbrachte.

In jenem Augenblick haßte ich Metufer und seine Worte so grimmig und erbittert, wie nur ein unreifer Jüngling hassen kann. Wie gerne ich ihn auch über Nefer ausgefragt hätte, ich ließ mich doch nicht dazu herab, sondern barg das Geheimnis in meinem Herzen, denn eine Lüge ist süßer als die Wahrheit, und ein Traum reiner denn irdische Vereinigung. Ich betrachtete den grünen Stein an meinem Finger und gedachte ihrer Augen und ihrer kühlen Brust und glaubte immer noch den Duft ihrer Salben von meinen Fingern einzuatmen. Ich suchte nach ihr, und ihre weichen Lippen berührten die meinen und trösteten mich, denn schon hatte Ammon sich mir offenbart, und mein Glaube war zusammengebrochen.

Beim Gedanken an sie flüsterte ich daher mit glühenden Wangen: »Meine Schwester!« Und das Wort tönte wie eine Liebkosung aus meinem Mund, denn von Ewigkeit zu Ewigkeit bedeutet es: Geliebte.

3

Doch jetzt will ich erzählen, wie Ammon sich mir offenbarte.

In der vierten Nacht war die Reihe an mir, über Ammons Ruhe zu wachen. Wir waren sieben Jünglinge: Mata, Moses, Bek, Sinufer, Nefru, Ahmose und ich, Sinuhe, Senmuts Sohn. Moses und Bek wollten wie ich Eintritt in das Haus des Lebens suchen, weshalb ich sie von früher kannte, während mir die übrigen Unbekannte waren.

Ich war schwach vom Fasten und von der Spannung. Wir waren alle ernst und folgten, ohne zu lächeln, dem Priester – sein Name sei der Vergessenheit übergeben –, als er uns in den geschlossenen Teil des Tempels geleitete. Ammon in seinem Schiff war bereits hinter den westlichen Bergen davongesegelt, die Wächter hatten ins Silberhorn gestoßen, und geschlossen waren die Tempeltore. Doch der Priester, der uns das Geleit gab, hatte sich am Fleisch der Opfertiere, an Obst und süßen Kuchen satt gegessen, sein Antlitz troff von Öl, und seine Wangen glühten vom Genuß des Weines. Er lachte vor sich hin, als er den Vorhang hob und uns in das Allerheiligste hineinsehen ließ. In seiner aus einem ungeheuren Steinblock ausgehauenen Kammer stand Ammon, und grün und rot und blau funkelten im Schein der heiligen Lampen die Edelsteine seiner Kopfbedeckung und seines Kragens. Am Morgen sollten wir ihn unter der Leitung des Priesters salben und frisch bekleiden, denn jeden Morgen brauchte er ein neues Gewand. Ich kannte ihn bereits von früher her. Ich hatte ihn am Frühlingsfest gesehen, als man ihn in einem goldenen Nachen in den Vorhof trug und die Menschen sich vor ihm zu Boden warfen. Und wenn die Wasser am höchsten standen, hatte ich ihn in seinem Schiff aus Zedernholz auf dem heiligen See segeln gesehen. Doch damals, als ich noch ein ungebildeter Zögling war, hatte ich ihn bloß von weitem sehen dürfen, und nie hatte sein rotes Gewand einen solch erschütternden Eindruck auf mich gemacht wie jetzt beim Lampenschein, in der lautlosen Stille des Allerheiligsten. Nur Götter und Pharaonen tragen rote Gewänder, und als ich sein hehres Antlitz betrachtete, hatte ich ein Gefühl, als ob das Gewicht der Steinkammer meine Brust zu ersticken drohe.

»Haltet Wache und betet vor dem Vorhang«, sagte der Priester und hielt sich am Saum des Vorhangs, weil er nicht sicher auf den Beinen stand. »Vielleicht wird er euch rufen, denn er pflegt sich denen, die die Weihe empfangen sollen, zu offenbaren, sie beim Namen zu rufen und zu ihnen zu sprechen, falls sie würdig dazu sind.« Er machte rasch die heiligen Zeichen mit der Hand, murmelte den göttlichen Namen Ammons und zog den Vorhang wieder zu, ohne sich auch nur zu verbeugen oder die Hände in Kniehöhe vorzustrecken.

Damit ging er und ließ uns sieben allein in der dunklen Vorhalle des abgeschlossenen Bezirks. Von dem Steinboden stieg eine furchtbare Kälte in unsere nackten Füße. Doch als er gegangen war, holte Moses unter seinem Achseltuch eine Lampe hervor, und Ahmose ging kaltblütig in das Allerheiligste hinein und holte von Ammons heiligem Feuer, um unsere Lampen anzuzünden.

»Verrückt wären wir, hier im Dunkel zu sitzen«, erklärte Moses, und wir fühlten uns sicher, obwohl wir uns alle ein wenig fürchteten. Ahmose holte Brot und Fleisch hervor, und Mata und Nefru begannen mit Würfeln auf dem Steinboden zu spielen und riefen jeden ihrer Würfe mit so lauter Stimme aus, daß sie in der Tempelhalle widerhallten. Ahmose aber rollte sich, nachdem er gegessen hatte, in sein Achseltuch ein und streckte sich, über den harten Stein fluchend, zur Ruhe aus, und kurz darauf legten sich Sinufer und Nefru neben ihn, um sich gegenseitig im Schlaf warmzuhalten.

Ich aber war jung und wachte, obwohl ich wußte, daß der Priester einen Krug Wein von Metufer bekommen und ihn mit ein paar anderen vornehmen Priesterkandidaten in seine Kammer eingeladen hatte und uns daher nicht überraschen werde. Ich wachte, obgleich ich aus den Erzählungen der anderen wußte, daß die vor ihrer Weihe Stehenden stets im geheimen speisten, spielten und schliefen. Mata begann vom Tempel der löwenhäuptigen Sehkmet zu erzählen, wo die göttliche Tochter Ammons sich den Kriegerkönigen zu offenbaren und sie in die Arme zu schließen pflegte. Dieser Tempel befand sich hinter dem Ammontempel, hatte aber sein Ansehen verloren. Sei Jahrzehnten hatte kein Pharao ihn mehr besucht, und das Unkraut wucherte zwischen den Steinplatten des Vorhofes. Mata aber erklärte, daß er nichts dagegen einzuwenden hätte, dort zu wachen und in diesem Augenblick die nackte Göttin zu umarmen, und Nefru würfelte und gähnte und grämte sich, daß er nicht so klug gewesen war, Wein mitzubringen. Alsdann legten sich die beiden schlafen, und bald war ich der einzige, der wachte.

Die Nacht wurde mir lang, und während die andern schliefen, war ich von tiefer Andacht und Sehnsucht ergriffen, weil ich noch so jung war, und ich dachte daran, daß ich mich rein erhalten und alle die alten Gebote erfüllt hatte, damit Ammon sich mir offenbaren sollte. Ich wiederholte seine heiligen Namen und lauschte mit gespannten Sinnen jedem Rascheln, doch der Tempel blieb leer und kalt. Im Morgengrauen begann der Vorhang des Allerheiligsten sich im Luftzug zu bewegen, sonst aber geschah nichts. Als das Tageslicht in die Tempelhalle fiel, löschte ich, unsäglich enttäuscht, die Lampe aus und weckte meine Kameraden.

Soldaten stießen ins Horn, die Wache auf den Mauern wurde abgelöst, und aus den Vorhöfen ließ sich ein leises Gemurmel wie das Rauschen ferner Wasser vernehmen und verkündete uns den Beginn des Tages und der Arbeit im Tempel. Schließlich kam der Priester eilenden Schrittes und mit ihm, zu meiner Verwunderung, Metufer. Beide rochen stark nach Wein, und sie kamen Arm in Arm daher, und der Priester schwang den Schlüssel der heiligen Schreine in der Hand und leierte, von Metufer unterstützt, die heiligen Formeln, bevor er uns begrüßte.

»Ihr Priesterkandidaten Mata, Moses, Bek, Sinufer, Nefrie, Ahmose und Sinuhe«, sprach der Priester. »Habt ihr gewacht und gebetet, wie es vorgeschrieben ist, um der Weihe würdig zu werden?«

»Wir haben gewacht und gebetet«, antworteten wir im Chor.

»Hat sich Ammon, seines Versprechens gemäß, euch offenbart?« fragte der Priester rülpsend und betrachtete uns mit flackerndem Blick. Wir schielten uns an und zögerten. Schließlich sagte Moses unsicher: »Er hat sich, seinem Versprechen gemäß, offenbart.« Einer nach dem anderen sprachen meine Kameraden: »Er hat sich offenbart.« Als letzter sagte Ahmose, andächtig und mit fester Stimme: »Gewiß, er hat sich offenbart!« Er sah dem Priester gerade in die Augen, ich aber sagte nichts, und es war mir, als hätte eine Faust mein Herz umklammert, denn die Worte meiner Kameraden dünkten mich eine Lästerung.

Metufer sagte frech: »Auch ich habe gewacht und gebetet, um der Weihe würdig zu werden, denn die nächste Nacht habe ich anderes zu tun, als hier zu verweilen. Auch mir hat sich Ammon offenbart, was der Priester bezeugen kann, und er tat es in der Gestalt eines großen Weinkruges und sprach zu mir von vielen heiligen Dingen, die hier zu wiederholen mir nicht ansteht, aber seine Worte waren süß wie Wein in meinem Munde, so daß mich bis zum Morgengrauen nach immer neuem dürstete.«

Da faßte Moses Mut und sagte: »Mir offenbarte er sich in der Gestalt seines Sohnes Horus, setzte sich wie ein Sperber auf meine Achsel und sprach: ›Gesegnet seist du, Moses, gesegnet deine Familie, gesegnet auch dein Werk, auf daß du einst in einem Hause mit zwei Toren sitzen und über zahlreiche Diener befehlen mögest.‹ So sprach er.«

Nun beeilten sich auch die anderen, zu berichten, was Ammon zu ihnen gesprochen habe, und sie redeten voller Eifer durcheinander, und der Priester hörte lächelnd zu und nickte. Ich weiß nicht, ob sie Träume, die sie gehabt, erzählten oder einfach logen. Ich weiß nur, daß ich einsam und verlassen dastand und nichts zu sagen hatte.

Schließlich wandte sich der Priester zu mir, runzelte seine rasierten Brauen und fragte streng: »Und du, Sinuhe, bist du nicht würdig, geweiht zu werden? Hast du ihn nicht wenigstens, als eine kleine Maus gesehen, denn in mancherlei Gestalt kann er sich offenbaren?«

Mein Eintritt in das Haus des Lebens stand auf dem Spiel, deshalb ermannte ich mich und sagte: »Im Morgengrauen sah ich den heiligen Vorhang sich bewegen, etwas anderes aber habe ich nicht gesehen, noch hat Ammon mit mir gesprochen.«

Da brachen alle in Lachen aus, und Metufer schlug sich dabei auf die Knie und sagte zum Priester: »Er ist ein Einfaltspinsel.« Er zupfte den Priester am Ärmel, der vom Wein naß war, und flüsterte ihm, mit einem Blick auf mich, etwas ins Ohr.

Von neuem betrachtete mich der Priester streng und sagte: »Wenn du die Stimme Ammons nicht vernommen hast, kann ich dich nicht weihen lassen. Doch dem soll rasch abgeholfen werden, denn ich will glauben, daß du ein braver Jüngling bist und daß deine Absichten redlich sind.« Nach diesen Worten verschwand er hinter dem Allerheiligsten. Metufer kam auf mich zu, und wie er mein unglückseliges Gesicht sah, sagte er freundlich: »Fürchte dich nicht!«

Im nächsten Augenblick jedoch schraken wir alle zusammen, denn durch die Dämmerung der Halle erscholl eine übernatürliche Stimme, die keiner menschlichen glich, und sie kam von überall, von der Decke, von den Wänden, zwischen den Säulen her, so daß wir um uns blickten, um ihren Ursprung zu ermitteln. Die Stimme sagte: »Sinuhe, Sinuhe, du Schlafmütze, wo bist du? Tritt rasch vor mein Antlitz und verbeuge dich vor mir, denn ich habe Eile und kann nicht den ganzen Tag auf dich warten.«

Metufer zog den Vorhang zur Seite, stieß mich in das Allerheiligste hinein, packte mich beim Genick und zwang mich zu Boden in jene Verbeugung, mit der man Götter und Pharaonen grüßt. Ich aber hob sofort mein Haupt und sah, daß das Allerheiligste von hellem Tageslicht durchströmt war, und die Stimme sprach aus dem Munde Ammons:

»Sinuhe, Sinuhe, du Schwein und Pavian! Warst du betrunken, daß du schliefst, als ich dich rief? In einen Schlammbrunnen solltest du geworfen werden, um für den Rest deines Lebens Schlick zu essen, doch ich habe Erbarmen mit deiner Jugend, obwohl du dumm, faul und schmutzig bist, denn ich erbarme mich eines jeden, der an mich glaubt, während ich die anderen in die Klüfte des Totenreiches stürze.«

Noch vieles andere sprach die Stimme unter Rufen, Schmähungen und Flüchen. Aber ich erinnere mich nicht mehr an alles und will mich dessen auch nicht entsinnen, so bitter war mir ob der Demütigung zumute, denn mein aufmerksames Lauschen ließ mich durch das Dröhnen der übernatürlichen Stimme hindurch die Stimme des Priesters erkennen, und diese Entdeckung erschütterte und entsetzte mich derart, daß ich nicht mehr hinzuhören vermochte. Ich blieb noch vor dem Bildwerk Ammons liegen, als die Stimme bereits verstummt war, bis der Priester kam und mich mit einem Fußtritt zur Seite schob, und meine Kameraden eilends Räucherwerk, Salben, Schönheitsmittel und rote Tüchter heranzuschleppen begannen.

Einem jeden war seine Aufgabe im voraus zugeteilt worden. Ich erinnerte mich der meinigen und holte aus dem Vorhof ein mit heiligem Wasser gefülltes Gefäß und heilige Tücher zum Waschen des Gesichtes, der Hände und der Füße des Gottes. Bei meiner Rückkehr aber sah ich den Priester Ammon ins Gesicht spucken, um es dann mit seinem fleckigen Ärmel abzuwischen. Darauf bemalten Moses und Nefru seine Lippen, Wangen und Augenbrauen. Metufer salbte ihn und schmierte alsdann lachend auch des Priesters öliges Gesicht wie sein eigenes mit dem heiligen Salböl ein. Schließlich wurde das Bildwerk entkleidet, gewaschen und getrocknet, als hätte es soeben seine Bedürfnisse verrichtet. Seine Geschlechtsteile wurden gesalbt, ein roter, in Falten gepreßter Rock wurde ihm angezogen, eine Schürze umgebunden und ein Achseltuch über seine Schultern gelegt, während seine Arme in die Ärmel gezwängt wurden.

Nachdem all dies geschehen war, sammelte der Priester die benützten Kleider und nahm die Tücher und das Waschwasser an sich, denn erstere wurden zerstückelt und zerteilt, im Vorhof an reiche Reisende verkauft, während das Wasser als Heilmittel an Kranke, die an Ausschlag litten, veräußert wurde. Wir waren frei und gingen auf den Hof in die Sonne hinaus, und ich erbrach mich.

Ebenso leer wie mein Magen waren mein Herz und mein Kopf, denn ich glaubte nicht mehr an die Götter. Doch als die Woche zu Ende gegangen war, wurde mein Haupt gesalbt, und ich wurde zum Priester Ammons geweiht, legte ein Priestergelübde ab und erhielt ein Zeugnis darüber. Das Zeugnis war mit dem Siegel des großen Ammontempels und mit meinem Namen versehen und berechtigte mich zum Eintritt in das Haus des Lebens.

So traten Moses, Bek und ich in das Haus des Lebens ein. Sein Tor tat sich uns auf, und auch mein Name wurde in das Buch des Lebens eingetragen, wie der Name meines Vaters Senmut vor mir und seines Vaters Name vor ihm eingetragen worden war. Ich aber ward fortan nicht mehr glücklich.

4

Im Haus des Lebens im großen Ammontempel überwachten angeblich die königlichen Ärzte, ein jeder auf seinem besonderen Gebiet, den Unterricht. Doch bekamen wir sie nur selten zu sehen, denn ihr Patientenkreis war groß, und sie erhielten von den Reichen große Geschenke für ihre ärztlichen Hilfeleistungen und wohnten in vornehmen Häusern außerhalb der Stadt. Kam aber in das Haus des Lebens ein Patient, dessen Krankheit die gewöhnlichen Ärzte nicht erkannten oder dessen Heilung sie mit ihren Kenntnissen nicht zu übernehmen wagten, dann erschien ein königlicher Arzt und führte den Studenten seines Faches seine ganze Gewandtheit vor. So konnte auch der ärmste Kranke zur Ehre Ammons die Pflege eines königlichen Arztes genießen.

Denn von den Patienten im Haus des Lebens erhob man Gaben je nach ihren Vermögensverhältnissen, und obgleich viele von ihnen das Zeugnis eines städtischen Arztes mitbrachten, gemäß welchem kein gewöhnlicher Heilkünstler ihre Leiden zu heilen imstande sei, gelangten auch die Allerärmsten geradewegs in das Haus des Lebens, und von ihnen wurde kein Geschenk verlangt. Das alles war sehr schön und richtig, doch hätte ich auf keinen Fall ein mittelloser Kranker sein wollen, denn an ihnen übten die Unerfahrenen ihre Kunst, und die Schüler durften sie behandeln um zu lernen. Auch wurden keine schmerzstillenden Mittel an sie verschwendet, sondern sie mußten Zange, Messer und Feuer ohne Betäubung erdulden. Deshalb drangen oft Schmerzensrufe und Wehgeschrei aus den Vorhallen zum Haus des Lebens, wo die Allerärmsten empfangen wurden.

Das ärztliche Studium und die Praxis währten lange, auch für die begabten Schüler. Wir mußten die Lehre der Arzneien durchgehen und die Pflanzen kennenlernen, mußten lernen, sie zur rechten Zeit zu sammeln, zu trocknen und auszuziehen, denn ein Arzt muß bei Bedarf seine Heilmittel selbst zubereiten können. Ich und mancher mit mir murrten darüber, weil wir keinen Nutzen darin sehen konnten, nachdem man nur ein Rezept auszuschreiben brauchte, um aus dem Haus des Lebens alle bekannten Heilmittel fertig gemischt und abgewogen zu erhalten. Später aber sollte ich, wie ich noch erzählen werde, großen Nutzen von meinen Kenntnissen auf diesem Gebiet haben. Wir mußten die Namen aller Körperteile sowie die Aufgabe und Arbeitsweise der verschiedenen menschlichen Organe kennenlernen. Wir mußten uns üben, mit Messer und Zahnstange umzugehen, vor allem aber sollten unsere Hände sich daran gewöhnen, die Krankheit eines Menschen aus seinen Körperhöhlungen oder durch Betasten seiner Haut herauszufühlen, und auch aus den Augen eines Menschen mußten wir sein Leiden erkennen. Wir sollten einer Frau bei der Entbindung beistehen können, wenn die Kunst der Hebamme versagte. Wir sollten, je nach Krankheitsfall, Schmerzen hervorrufen und Schmerzen stillen können. Wir mußten lernen, kleine von großen, seelische von körperlichen Leiden zu unterscheiden. Wir sollten lernen, in den Reden der Patienten das Wahre vom Unwahren zu unterscheiden und alle nötigen Fragen zu stellen, um ein klares Krankheitsbild zu erhalten.

Man wird daher verstehen, daß ich, je weiter meine Studien fortschritten, immer klarer einsah, wie wenig ich im Grunde wußte. In der Tat dürfte ein Arzt erst dann ausgebildet sein, wenn er bescheiden sich selbst gesteht, nichts zu wissen. Doch darf er das dem Laien nicht verraten, denn das wichtigste von allem ist, daß der Patient an den Arzt glaubt und seiner Kunst vertraut. Das ist das Fundament, auf das sich die ganze Heilkunst aufbaut. Daher darf ein Arzt sich niemals eines Irrtums schuldig machen, denn ein Arzt, der nicht sicher ist, verliert seinen Ruf und schadet dem der anderen Ärzte. In den Häusern der Reichen, wo man in schweren Fällen zwei bis drei Ärzte zuzieht, geschieht es deshalb öfters, daß diese den Irrtum ihres Vorgängers lieber ins Grab tragen lassen, als daß sie ihn zur Schande der ganzen Ärzteschaft aufdeckten. Es heißt daher auch, daß die Ärzte sich gegenseitig ihre Patienten begraben helfen.

Doch alles das wußte ich damals noch nicht, sondern ich betrat das Haus des Lebens voller Ehrfurcht, im Glauben, dort alle irdische Weisheit und Güte vorzufinden. Die ersten Wochen gestalteten sich schwer, denn der letztgekommene Schüler ist der Diener aller anderen, und keiner aus der ganzen Dienerschaft ist so niedrig, daß er nicht über ihm stünde und ihm befehlen könnte. Zuerst muß der Schüler Reinlichkeit lernen, und es gibt keine so schmutzige Beschäftigung, daß er sie nicht ausführen müßte; deshalb wird er krank vor Ekel, bis er schließlich abgehärtet ist. Aber bald genug weiß er sogar im Schlaf, daß ein Messer erst dann sauber ist, wenn es in Wasser und Lauge gekocht wurde.

Doch alles, was zur Heilkunst gehört, ist bereits in anderen Büchern aufgezeichnet worden, und ich will mich daher nicht länger dabei aufhalten. Lieber berichte ich, was mich selbst betrifft, was ich selbst gesehen oder worüber andere nicht geschrieben haben.

Nach einer langen Prüfungszeit kam endlich jener Moment, da andere, nachdem ich mich durch heilige Zeremonien gereinigt hatte, mir ein weißes Gewand anzogen, und ich in der Empfangshalle lernen durfte, starken Männern Zähne auszuziehen, Wunden zu verbinden, Geschwüre aufzustechen und gebrochene Glieder zu schienen. Zwar war mir das nichts Neues, und dank meines Vaters Lehren machte ich gute Fortschritte und durfte bald meinen Kameraden Anweisungen und Unterricht erteilen. Bisweilen erhielt ich sogar Geschenke wie ein richtiger Arzt, und ich ließ meinen Namen Sinuhe in den grünen Stein schneiden, den Nefernefernefer mir geschenkt hatte, um mein Siegel unter die Rezepte setzen zu können.

Immer schwerere Aufgaben wurden mir anvertraut. Ich durfte in den Sälen wachen, wo die Unheilbaren lagen, und der Krankenpflege wie den Operationen berühmter Ärzte beiwohnen, Operationen, an denen zehn Patienten starben, während einer geheilt wurde. Ich lernte auch einsehen, daß der Tod für den Arzt nichts Schreckhaftes und für den Kranken oft ein barmherziger Freund ist, so daß eines Menschen Gesicht nach dem Tod oft glücklicher ist, als es in den armseligen Tagen seines Lebens war.

Dennoch war ich blind und taub bis zum Tag des Erwachens, wie einst in meiner Kindheit, als die Bilder, Worte und Buchstaben in mir lebendig wurden. So kam auch jetzt der Augenblick, da sich meine Augen öffneten, ich wie aus einem Traum erwachte, meine Seele jubelte und ich mich fragte: »Warum?« Denn der erschreckende Schlüssel zu allem wahren Wissen ist die Frage: »Warum?« Sie ist stärker als das Rohr des Thtoh und besitzt mehr Kraft als eine in Stein gemeißelte Schrift.

Also geschah es: Es war eine Frau, die kein Kind bekommen hatte, und die sich unfruchtbar glaubte, denn sie war bereits vierzig Jahre alt. Aber ihre monatlichen Beschwerden hörten auf, und sie erschrak und machte sich Kummer und kam ins Haus des Lebens, weil sie befürchtete, ein böser Geist sei in sie gefahren und vergifte ihren Leib. Wie vorgeschrieben, nahm ich Getreidekörner und legte sie in Erde. Einige davon befeuchtete ich mit dem Wasser des Nils, die übrigen aber mit dem Wasser der Frau. Die Erde stellte ich an die Sonne und bat die Frau, in einigen Tagen zurückzukommen. Als sie wiederkehrte, sah ich, daß die Keime aufgegangen waren und daß die mit Wasser befeuchteten klein, die übrigen aber grün und saftig waren. Also war es wahr, was geschrieben stand, und ich sprach zu der erstaunten Frau: »Freue dich, Weib, der heilige Ammon hat in seiner Gnade deinen Schoß gesegnet, und wie andere gesegnete Frauen wirst du ein Kind gebären.«

Die arme Frau weinte vor Freude und reichte mir einen Silberreifen von zwei Deben Gewicht von ihrem Armgelenk, denn sie hatte schon längst die Hoffnung aufgegeben. Und kaum schenkte sie mir Glauben, fragte sie schon: »Wird es ein Sohn?« Sie glaubte nämlich, daß ich allwissend sei. Ich faßte Mut, sah ihr in die Augen und sagte: »Es wird ein Sohn.« Denn die Möglichkeiten standen eins zu eins, und zu jener Zeit hatte ich Glück im Spiel. Die Frau freute sich noch mehr und gab mir von ihrem andern Handgelenk noch einen zweiten Silberreifen von zwei Deben Gewicht.

Doch nachdem sie gegangen war, stellte ich mir selbst die Frage: Wie ist es möglich, daß ein Getreidekorn weiß, was kein Arzt erforschen, wissen oder sehen kann, bevor die Anzeichen der Schwangerschaft dem Auge sichtbar werden? Ich faßte mir ein Herz und ging meinen Lehrer fragen, warum es so sei. Er aber betrachtete mich, wie man einen Toren betrachtet, und sagte nur: »So steht es geschrieben.« Doch das war keine Antwort auf meine Frage: »Warum?« Nochmals schöpfte ich Mut und fragte den königlichen Geburtsarzt im Haus der Wöchnerinnen, warum es so sei. Er antwortete: »Ammon ist der König aller Götter. Sein Auge sieht den Schoß des Weibes, in den sich die Samen ergossen. Wenn er die Befruchtung gestattet, warum sollte er dann nicht auch dem Gerstenkorn, das mit dem Wasser eines befruchteten Weibes befeuchtet wurde, gestatten, in der Erde zu keimen?« Er sah mich an wie einen Toren, doch für mich waren seine Worte keine Antwort auf mein »Warum?«.

Da gingen mir die Augen auf, und ich sah, daß die Ärzte im Haus des Lebens nur die Schriften und Gebräuche kannten, aber nichts darüber hinaus. Denn wenn ich fragte, weshalb eine ätzende Wunde gebrannt, eine gewöhnliche Wunde aber gesalbt und verbunden werden sollte, und warum Schimmel und Spinngewebe Geschwüre heilten, gab man mir zur Antwort: »Es ist stets so geschehen.« So hat auch der im Gebrauch des heiligen Messers Erfahrene das Recht, die hundertzweiundzwanzig Operationen und Schnitte, die aufgezeichnet worden sind, vorzunehmen, und er führt sie aus, je nach seiner Erfahrung und Geschicklichkeit, besser oder schlechter, rascher oder langsamer, schmerzloser oder unter Verursachung unnützer Qualen. Darüber hinaus aber kann er nichts tun, weil nur diese in den Büchern aufgezeichnet und abgebildet sind und weil nichts anderes in früheren Zeiten unternommen wurde.

Es gab Menschen, die abmagerten und ihre Gesichtsfarbe verloren, ohne daß der Arzt eine Krankheit oder ein Übel bei ihnen zu entdecken vermochte. Trotzdem konnten sie sich erholen und gesund werden, wenn sie rohe, zu hohem Preis gekaufte Leber von den Opfertieren aßen. Doch man durfte nicht fragen, warum es so geschah. Es gab Menschen, die Leibschmerzen bekamen und deren Gesicht und Hände brannten. Sie erhielten Abführmittel und schmerzstillende Arzneien, und einige genasen, und andere starben, ohne daß der Arzt im voraus hätte sagen können, wer Heilung finden und wessen Magen aufschwellen werde, bis der Tod ihn erlöste. Doch, weshalb der eine gesund wurde und der andere starb, wußte niemand, noch durfte man danach fragen.

Ich merkte nämlich bald, daß ich zuviel Fragen stellte, denn man begann mir abgeneigt zu werden, und die, die nach mir kamen, wurden bevorzugt und über mich gesetzt. Da zog ich mein weißes Gewand aus, reinigte mich und verließ das Haus des Lebens und nahm die zwei Silberreifen mit, die zusammen vier Deben wogen.

5

Doch als ich mitten am Tag aus dem Tempel trat, was seit Jahren nicht geschehen war, gingen mir die Augen nochmals auf, und ich sah, daß während der Zeit meiner Arbeit und Studien Theben sich verändert hatte. Ich sah es, als ich den Weg der Widder entlang und über die Plätze ging, denn überall herrschte eine neue Rastlosigkeit. Die Gewänder der Leute waren kostbarer und üppiger geworden, und man konnte wegen der Faltenröcke und Perücken nicht mehr Mann von Weib unterscheiden. Aus den Weinstuben und Freudenhäusern erschallte schrille syrische Musik, und auf der Straße vernahm man immer mehr fremde Sprachen, und immer frecher drängten sich Syrier und reiche Neger unter die Ägypter. Der Reichtum und die Macht Ägyptens waren unermeßlich. Seine Städte waren seit Jahrhunderten von keinem Feind betreten worden, und die Männer, die niemals einen Krieg erlebt hatten, standen bereits in den mittleren Jahren. Doch weiß ich nicht, ob diese den Menschen größere Lebensfreude brachte, denn aller Blicke waren unstet, und alle hasteten und waren unzufrieden mit dem Gegenwärtigen und sehnten sich nach etwas Neuem.

Ich durchwandelte Thebens Straßen und war einsam. Mein Herz war schwer von Trotz und Kummer. Ich ging nach Hause und sah, daß mein Vater Senmut alt geworden war; sein Rücken war gekrümmt, und er konnte die Buchstaben auf dem Papyrus nicht mehr lesen. Ich sah auch, wie meine Mutter Kipa alt geworden war und keuchte, wenn sie über den Boden ging. Sie sprach von nichts anderem mehr als von ihrem Grab. Mein Vater hatte nämlich aus seinen Ersparnissen für sie beide in der Totenstadt, am westlichen Ufer des Stromes, ein Grab gekauft. Ich hatte es gesehen, es war ein schmuckes, aus Lehmziegeln ausgeführtes Grab, das die üblichen Bilder und Inschriften an den Wänden trug. Dicht daneben und rundherum lagen Hunderte und Tausende solcher Gräber, die die Ammonpriester zu teurem Preis an ehrliche und sparsame Leute verkauften, welche Unsterblichkeit erlangen wollten. Zur Freude meiner Mutter hatte ich den Eltern auch ein Totenbuch geschrieben, das ihnen ins Grab folgen würde, damit sie sich auf dem weiten Weg nicht verirren sollten. Es war ein fehlerfrei geschriebenes, vortreffliches Totenbuch, wenn es auch keine gemalten Bilder enthielt wie die im Bücherhof des Ammontempels zum Verkauf feilgebotenen.

Meine Mutter reichte mir zu essen, mein Vater fragte nach meinen Studien, aber sonst hatten wir einander nichts mehr zu sagen, und das Haus war mir fremd, und die Straße war mir fremd, und die Menschen an der Straße ebenso. Deshalb wurde mir das Herz immer schwerer, bis mir der Tempel Ptahs und mein Freund Thotmes, der Künstler werden sollte, in den Sinn kamen. Da dachte ich: »Ich habe vier Deben Silber in der Tasche. Ich gehe meinen Freund Thotmes holen, damit wir uns zusammen freuen und uns am Wein gütlich tun, denn auf meine Frage werde ich ohnehin nie Antwort erhalten.«

Deshalb nahm ich Abschied von meinen Eltern und sagte, daß ich in das Haus des Lebens zurückkehren müsse. Kurz vor Sonnenuntergang fand ich den Tempel Ptahs und fragte den Türwächter nach der Künstlerschule, ging hinein und verlangte nach dem Schüler Thotmes. Erst jetzt erfuhr ich, daß er schon längst aus der Schule fortgejagt worden war. Die Schüler mit den lehmbeschmierten Händen, bei denen ich mich nach ihm erkundigte, spuckten beim Nennen seines Namens auf den Boden. Einer von ihnen sagte: »Wenn du Thotmes suchst, findest du ihn am sichersten in einer Bierstube oder einem Freudenhaus.« Ein zweiter sagte: »Hörst du die Götter schmähen, dann ist Thotmes sicher in der Nähe.« Und ein dritter sagte: »Wo man sich prügelt und Beulen und blutige Wunden zufügt, kannst du sicher sein, deinen Freund Thotmes zu finden.« Sie spuckten wieder auf den Boden, weil ich mich Thotmes’ Freund genannt hatte, aber sie taten es nur des Lehrers wegen. Als er den Rücken kehrte, rieten sie mir, in die Weinstube »Zum syrischen Krug« zu gehen.

Ich fand diese Weinstube. Sie lag an der Grenze zwischen dem Armenviertel und dem Stadtteil der Reichen. Eine Inschrift über der Tür lobte den Wein aus Ammons Rebbergen und dem Hafen. Drinnen waren die Wände mit fröhlichen Bildern bemalt, auf denen Paviane junge Tänzerinnen liebkosten und Ziegen auf Flöten spielten. Am Boden saßen Künstler, die eifrig Bilder auf Papyri zeichneten, und ein alter Mann blickte betrübt in seine leere Weinschale.

»Sinuhe, bei der Drehscheibe aller Töpfer«, rief jemand und erhob sich, um mich zu begrüßen, indem er als Ausdruck seiner Überraschung die Hand emporstreckte. Ich erkannte Thotmes, obgleich sein Achseltuch schmutzig, zerrissen und seine Augen blutunterlaufen waren und seine Stirn eine große Beule trug. Er war gealtert, abgemagert, und trotz seiner Jugend lagen Falten um seine Mundwinkel. Nur seine Augen funkelten mich noch ansteckend kühn und unternehmungslustig an, und er beugte seinen Kopf zu mir, so daß unsere Wangen sich berührten. Damit wußte ich, daß wir noch Freunde waren.

»Mein Herz ist schwer von Kummer, und alles ist nichtig«, sprach ich zu ihm. »Deshalb habe ich dich aufgesucht, damit wir unsere Herzen gemeinsam mit Wein erquicken, denn niemand gibt mir Antwort auf meine Frage: ›Warum?‹«

Thotmes hob seinen Lendenschurz, um zu zeigen, daß er nicht die Mittel besitze, um Wein zu kaufen.

»Ich trage vier Deben Silber an den Handgelenken«, sagte ich stolz. Thotmes aber wies auf meinen Kopf, der immer noch glatt rasiert war, weil ich den Menschen zeigen wollte, daß ich ein Priester ersten Grades sei. Sonst besaß ich ja nichts, worauf ich hätte stolz sein können. Aber jetzt ärgerte es mich, daß ich mein Haar nicht hatte wachsen lassen. Deshalb sagte ich ungeduldig:

»Ich bin kein Priester, sondern ein Arzt. Ich glaube über der Tür gelesen zu haben, daß hier auch Wein aus dem Hafen ausgeschenkt wird. Laß uns versuchen, wie er schmeckt!« Dabei klirrte ich mit den Silberreifen an meiner Hand. Der Wirt eilte herbei und verbeugte sich vor mir und streckte die Hände in Kniehöhe vor.

»Ich habe in meinem Keller Weine aus Sidon und Byblos, deren Siegel noch ungebrochen und die süß von Myrrhe sind«, erklärte er. »Es gibt auch gemischte Weine in bunten Bechern. Sie steigen einem in den Kopf wie das Lächeln eines schönen Mädchens und erfreuen das Herz.« Noch viel anderes sprach und plapperte er, ohne ein einziges Mal Atem zu schöpfen, so daß ich schließlich verlegen wurde und Thotmes fragend ansah. Thotmes bestellte uns gemischten Wein. Ein Sklave goß Wasser über unsere Hände und stellte auf einen niedrigen Tisch vor uns eine Schüssel mit gerösteten Lotossamen. Der Wirt brachte selbst die bunten Becher. Thotmes hob einen Becher, goß einen Tropfen auf den Boden und sagte: »Für den göttlichen Töpfer! Möge die Pest die Kunstschule und ihre Lehrer verschlingen!« Und er zählte die Namen der ihm am meisten verhaßten Lehrer auf.

Auch ich hob meinen Becher und goß einen Tropfen auf den Boden. »Im Namen Ammons«, sagte ich, »möge sein Boot ewig kentern, mögen die Bäuche seiner Priester platzen, und möge die Pest die unwissenden Lehrer im Haus des Lebens verschlingen!« Aber ich sagte es mit leiser Stimme und blickte mich um, ob kein Fremder meine Worte höre.

»Fürchte dich nicht«, sagte Thotmes. »In diesem Wirtshaus hat man schon so viele Ohren Ammons zerrissen, daß er das Horchen satt bekommen hat. Wir alle hier drinnen sind ohnehin Verworfene. Ich vermöchte mir nicht einmal Brot und Bier zu kaufen, wenn ich nicht auf die Idee gekommen wäre, Bilderbücher für die Kinder der Reichen zu zeichnen.«

Er zeigte mir Papyrusrollen, auf die er, als ich die Weinstube betrat, Bilder zeichnete. Ich mußte lachen, denn ich sah eine Festung, die durch eine vor Schrecken zitternde Katze gegen angreifende Mäuse verteidigt wurde. Außerdem hatte er noch ein Flußpferd gezeichnet, das in einem Baumwipfel saß und sang, während eine Taube auf einer Leiter mühsam den Baum erkletterte.

Thotmes sah mich an, und seine braunen Augen lächelten. Aber er entfaltete die Rolle weiter – und da lachte ich nicht mehr, denn ein Bild kam zum Vorschein, auf dem ein kleiner kahlköpfiger Priester den Pharao als Opfertier an einem Seil zum Tempel führte. Weiter zeigte er mir ein Bild, auf dem ein kleiner Pharao sich vor einer mächtigen Ammonstatue verbeugte. Ich sah ihn fragend an. Er nickte und sagte:

»Ist es etwa nicht so? Auch die Erwachsenen lachen über die Bilder, weil sie unsinnig sind. Es ist ja lächerlich, daß eine Maus eine Katze angreift, und ebenso lächerlich, daß ein Priester einen Pharao führt. Aber die Wissenden fangen an, sich allerlei zu denken. Deshalb leide ich keinen Mangel an Brot und Bier, bis mich die Priester eines Tages von ihren Wächtern an einer Straßenecke totschlagen lassen. Derlei ist schon vorgekommen.«

»Laß uns trinken!« sagte ich, und wir tranken Wein, aber mein Herz empfand keine Freude. »Ist es unrecht zu fragen: ›Warum?‹« sagte ich.

»Natürlich ist es unrecht«, erklärte Thotmes, »denn ein Mensch, der ›Warum?‹ zu fragen wagt, hat kein Heim, kein Obdach und kein Nachtlager im Lande Kêmet. Alles soll beim alten bleiben, das weißt du ja. Du wirst dich erinnern, Sinuhe, daß ich vor Stolz und Freude zitterte, als ich in die Kunstschule aufgenommen wurde. Ich glich einem Dürstenden, der eine Quelle findet. Ich glich einem Hungernden, der nach einem Stück Brot greift. Und ich lernte viel Nützliches. Ich lernte, wie ein Künstler seinen Stift zu halten und seinen Meißel zu handhaben hat, wie ein Modell in Wachs zu formen ist, ehe es in Stein gehauen wird, und wie Stein poliert, Alabaster gefärbt und farbige Steine zusammengefügt werden. Doch als ich vor Eifer brannte, ans Werk zu gehen, um zur Freude meiner Augen das zu gestalten, was mir träumte, da stieß ich an eine Mauer, und man hieß mich Lehm treten, den andere formen sollten. Denn über allem steht eine Formel. Die Künste, genau wie die Buchstaben, haben ihre Formeln, und wer dagegen verstößt, wird verdammt. Deshalb gibt es für alles ein Vorbild, und wer von ihm abweicht, taugt nicht zum Künstler. Seit Urzeiten ist es vorgeschrieben, wie man einen stehenden Menschen abzubilden hat und wie einen sitzenden. Seit Urzeiten ist es festgesetzt, wie ein Pferd seine Füße hebt und ein Ochse seinen Schlitten zieht. Seit Urzeiten ist es bestimmt, wie ein Künstler seine Arbeit auszuführen hat, und wer davon abweicht, ist untauglich für den Tempel, und Stein und Meißel werden ihm verweigert. O Sinuhe, mein Freund, auch ich habe gefragt: ›Warum?‹ Nur zu oft habe ich ›Warum?‹ gefragt. Deshalb sitze ich hier mit Beulen am Kopf.«

Wir tranken Wein und wurden besserer Stimmung. Mein Herz fühlte sich erleichtert, denn ich war nicht mehr einsam. Und Thotmes sagte:

»Sinuhe, mein Freund, wir wurden zu einer seltsamen Zeit geboren. Alles bewegt sich und wechselt seine Form, wie der Lehm auf der Drehscheibe des Töpfers. Die Kleidung ändert sich, die Worte und die Sitten ändern sich, und die Menschen glauben nicht mehr an die Götter, obwohl sie sie noch immer fürchten. Sinuhe, mein Freund, vielleicht wurden wir geboren, um im Sonnenuntergang der Welt zu leben, denn die Welt ist bereits alt geworden, nachdem tausend und zweitausend Jahre seit der Erbauung der Pyramiden vergangen sind. Wenn ich daran denke, möchte ich am liebsten mein Haupt in meine Hände stützen und weinen wie ein Kind.«

Aber er weinte nicht, denn wir tranken gemischten Wein aus farbenfrohen Bechern, und beim Wiederauffüllen unserer Becher verbeugte sich der Wirt des »Syrischen Kruges« jedesmal vor uns und streckte seine Hände in Kniehöhe vor. Von Zeit zu Zeit kam ein Sklave und goß Wasser über unsere Hände. Mir wurde so leicht ums Herz wie einer segelnden Schwalbe. Ich hätte Gedichte vortragen und die ganze Welt umarmen mögen.

»Gehen wir in ein Freudenhaus«, sagte Thotmes lachend. »Gehen wir tanzende Mädchen bewundern, damit unsere Herzen sich erfreuen, und wir nicht länger › Warum?‹ zu fragen noch Wein zu trinken wünschen.«

Ich bezahlte mit dem einen Armreifen und empfahl dem Wirt, ihn sorgfältig zu behandeln, weil er noch feucht sei von dem Wasser eines schwangeren Weibes. Dieser Gedanke ergötzte mich sehr, und auch der Wirt lachte herzlich und wechselte mir eine ganze Menge gestempelte Silberstücke, so daß ich auch dem Sklaven davon geben konnte. Dieser verneigte sich vor mir bis zum Boden, und der Wirt begleitete uns zur Tür und bat mich, den »Syrischen Krug« nicht zu vergessen. Er behauptete noch, eine Menge unbefangener junger Mädchen zu kennen, die gerne meine Bekanntschaft machen würden, falls ich sie mit einem bei ihm gekauften Weinkrug aufsuchen möchte. Aber Thotmes erklärte, daß bereits sein Großvater mit diesen syrischen Mädchen geschlafen habe. Man könnte sie also eher Großmütter als Schwestern nennen. So scherzhaft waren wir durch den Wein geworden.

Wir zogen durch die Straßen. Die Sonne war gesunken, und ich lernte nun jenes Theben kennen, in dem es niemals Nacht ward, weil die vergnügungssüchtigen Menschen ihren prunkhaften Stadtteil in der Nacht taghell erleuchteten. Vor den Freudenhäusern flammten Fackeln, und auf Säulen an den Straßenecken brannten Lampen. Sänftentragende Sklaven kamen gelaufen, und die Rufe der Vorläufer mischten sich mit den Klängen der aus den Häusern strömenden Musik und mit dem Gegröle der vom Wein Berauschten. Wir warfen einen Blick in die Weinstube der Kuschländer und sahen Neger mit den Händen und mit Keulen auf Trommeln schlagen, deren furchtbares Dröhnen weithin hallte. Mit ihnen wetteiferte die primitive, schrille syrische Musik, deren fremdartige Töne das Ohr schmerzten, deren Rhythmus aber anfeuernd wirkte und das Blut in Wallung versetzte.

Ich war noch nie zuvor in einem Freudenhaus gewesen und hatte daher ein ängstliches Gefühl, aber Thotmes führte mich in ein Haus, das den Namen »Katze und Taube« führte. Es war ein kleines, schmuckes Gebäude mit weichen Teppichsitzen und angenehm gelblicher Beleuchtung. Junge, für meinen Geschmack schöne Mädchen schlugen mit rotgefärbten Händen den Takt zum Klang der Flöten und der Saiteninstrumente. Als die Musik verstummte, setzten sie sich neben uns und baten mich um Wein, weil ihre Kehlen trocken wie Stroh seien. Wieder begann die Musik zu spielen, und zwei nackte Tänzerinnen führten einen kunstvollen Tanz vor, der viel Geschicklichkeit erheischte und den ich mit großer Anteilnahme verfolgte. Als Arzt war mir der Anblick entblößter Mädchen nichts Ungewöhnliches, doch nie noch zuvor hatten ihre Brüste, die kleinen Bäuche und schmalen Gesäße sich so verführerisch vor mir entblößt wie hier bei diesen rhythmischen Bewegungen.

Dennoch weckte die Musik von neuem meine Schwermut. Ich fühlte eine Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem. Ein schönes Mädchen legte ihre Hand in die meine und lehnte sich an mich und sagte: »Du hast die Augen eines Weisen!« Ihre Augen aber waren nicht grün wie der Nil in der Sommerhitze, und ihr Gewand war nicht aus königlichem Leinen, wenn es auch den Busen frei ließ. Deshalb trank ich Wein und blickte ihr nicht in die Augen und verspürte keine Lust, sie Schwester zu nennen und um ihre Liebe zu bitten. Darum war meine letzte Erinnerung an dieses Freudenhaus der Fußtritt eines zornigen Negers in mein Hinterteil und eine Beule, die ich erhielt, als ich die Treppe hinunterkollerte. Es erging mir genauso, wie Mutter Kipa es vorausgesagt hatte. Ich lag an einer Straßenecke, ohne ein Kupferstück in meiner Tasche, mit zerrissenem Achseltuch und einer Beule am Kopf. Thotmes stützte mit seiner starken Schulter meinen Arm. Er geleitete mich zum Kai, wo ich meinen Durst mit dem Wasser des Nils stillen, mein Gesicht, meine Hände und Füße waschen konnte.

An jenem Morgen betrat ich das Haus des Lebens mit verschwollenen Augen, mit einer Beule am Kopf und einem schmutzigen Achseltuch, ohne die geringste Lust zu fragen: »Warum?« Ich sollte die Abteilung der Tauben und der Ohrenkranken betreuen, deshalb reinigte ich mich eilig und zog das weiße Ärztegewand an, um die Patienten aufzusuchen. Doch mein Lehrer und Aufseher kam mir im Gang entgegen, sah mein Gesicht und begann mich mit den gleichen Worten, die ich aus den Büchern kannte und auswendig wußte, zu tadeln.

»Was soll aus dir werden«, sagte er, »wenn du nachts auf den Mauern lustwandelst und Wein trinkst, ohne Maß zu halten? Was soll aus einem Menschen werden, der seine Zeit in den Freudenhäusern vergeudet und mit Stöcken auf Krüge trommelt und Menschen erschreckt? Was soll aus dir werden, der du blutige Wunden schlägst und vor den Wächtern die Flucht ergreifst?«

Nachdem er so seine Pflicht getan, lächelte er vor sich hin, stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, geleitete mich in sein Zimmer und gab mir einen Trank, der meinen Bauch ausspülen sollte. Es ward mir wohler zumute, und ich verstand, daß auch der Genuß von Wein und Freudenhäusern im Haus des Lebens gestattet ist, wenn man nur nicht fragte: »Warum?«

6

So drang das Fieber Thebens auch mir ins Blut, und ich begann, die Nacht mehr als den Tag, den flackernden Schein der Laternen mehr als das Licht der Sonne, syrische Musik mehr als den Jammer der Kranken, das Flüstern schöner Mädchen mehr als alte Schriftzeichen auf vergilbtem Papyrus zu lieben. Und niemand hatte dagegen etwas einzuwenden, solange ich meine Aufgaben im Haus des Lebens erfüllte, die Prüfungen bestand und meine Hand nicht an Sicherheit einbüßte. All das gehörte zum geweihten Leben, denn nur wenige Studierende besaßen die Mittel, ein eigenes Heim zu gründen und vor der Beendigung der Lehrzeit zu heiraten. Deshalb gaben mir meine Lehrer zu verstehen, daß ich gut tue, die Hörner abzustoßen, meinen Leib zu befriedigen und mein Herz zu ergötzen. Trotzdem berührte ich kein Weib, wenn ich auch zu wissen glaubte, daß der Schoß einer schönen Frau nicht wie Feuer brannte.

Die Zeiten waren unruhig, und der große Pharao war krank. Ich sah sein vertrocknetes Greisengesicht, als er beim Herbstfest in den Tempel getragen wurde, mit Gold und Edelsteinen geschmückt, unbeweglich wie ein Götzenbild, den Kopf unter der Schwere der Doppelkrone gebeugt. Er war krank, und die Mittel der königlichen Ärzte vermochten ihn nicht mehr zu heilen, und ein Gerücht wußte zu erzählen, daß seine Zeit abgelaufen sei und daß sein Nachfolger bald den Thron der Pharaonen besteigen werde. Der Thronerbe aber war noch ein Jüngling wie ich.

Im Tempel fanden Opfer und Zeremonien statt, aber Ammon vermochte seinem göttlichen Sohn nicht zu helfen, obwohl Pharao Amenophis der Dritte ihm den mächtigsten Tempel aller Zeiten errichtet hatte. Es wurde auch behauptet, daß der König den Göttern Ägyptens grolle und daß er einen Eilboten zu seinem Schwiegervater, dem König von Mitani im Lande Naharina, entsandt habe, um die Wundertäterin von Ninive, Ischtar, zu seiner Heilung zu fordern. Doch das bedeutete eine solche Schmach für Ammon, daß man auf dem Tempelgebiet und im Haus des Lebens nur flüsternd davon sprach.

Das Bildnis der Ischtar kam, und ich sah krausbärtige Priester mit seltsamen Kopfbedeckungen und dicken Wollmänteln es schweißtriefend unter dem Klang metallener Posaunen und dem Gerassel kleiner Trommeln durch Theben tragen. Zur Freude der Priester aber vermochte auch die Gottheit des fremden Landes dem Pharao nicht zu helfen, denn als die Wasser des Stromes zu steigen begannen, wurde der königliche Schädelbohrer in den Palast berufen.

Seit ich im Haus des Lebens weilte, hatte ich Ptahor noch nie gesehen. Schädelbohrungen kamen selten vor, und ich wurde während meiner Lehrzeit weder zur Pflege noch zu Operationen auf solchen Spezialgebieten zugelassen. Jetzt wurde Ptahor eilends aus seinem vornehmen Wohnsitz ins Haus des Lebens getragen. Er reinigte sich im Vorbereitungsraum, und ich war darauf bedacht, mich in seiner Nähe zu halten. Er war ebenso kahlköpfig wie früher, sein Gesicht war runzlig geworden, und seine Wangen hingen traurig zu beiden Seiten des mürrischen Greisenmundes herab. Er erkannte mich, lächelte und sagte: »Du bist es, Sinuhe? Bist du wirklich schon so weit gekommen, du Sohn Senmuts?« Er reichte mir einen Schrein aus Ebenholz, in dem er seine Instrumente aufbewahrte, und hieß mich ihm folgen. Das bedeutete eine unverdiente Ehre für mich, um die mich sogar ein königlicher Arzt beneidet hätte, und ihr entsprechend trat ich auf.

»Erst muß ich die Sicherheit meiner Hand erproben«, sagte Ptahor. »Wir beginnen damit, hier ein paar Schädel zu öffnen, damit wir sehen, wie die Arbeit vonstatten geht.« Seine Augen waren wässerig, und seine Hände zitterten ein wenig. Wir gingen in den Krankensaal hinüber, in dem die Unheilbaren, die Gelähmten und die Patienten mit Kopfverletzungen lagen. Ptahor untersuchte einige von ihnen und wählte einen alten Mann, für den der Tod eine Befreiung bedeutet hätte, und einen starken Sklaven, der die Sprache verloren hatte und seine Glieder nicht mehr bewegen konnte, weil sein Kopf bei einer Straßenprügelei mit einem Stein eingeschlagen worden war. Beide erhielten ein Betäubungsmittel und wurden in das Operationszimmer übergeführt und gereinigt. Ptahor wusch seine Instrumente selbst und läuterte sie im Feuer. Meine Aufgabe bestand darin, den beiden Patienten mit dem feinsten Messer die Häupter kahlzuschaben. Alsdann wurde der Kopf nochmals gewaschen und gesäubert und die Haut mit einer betäubenden Salbe eingerieben: Jetzt konnte Ptahor ans Werk gehen. Erst schnitt er die Kopfhaut des Greises auf und schob sie zur Seite, ohne sich um die reichliche Blutung zu kümmern. Dann machte er mit einem groben, rohrförmigen Bohrer geschickt ein Loch in das entblößte Scheitelbein und zog das lose Knochenstück heraus. Der Greis begann zu jammern, und sein Gesicht färbte sich blau.

»Ich finde keinen Fehler in seinem Schädel«, sagte Ptahor, drückte das Knochenstück wieder an seinen Platz, nähte die Haut mit einigen Stichen zu und verband den Kopf, worauf der Alte sein Leben aushauchte.

»Meine Hände scheinen ein wenig zu zittern«, bemerkte Ptahor. »Vielleicht bringt mir einer von den jungen Leuten einen Becher Wein.« Unter den Zuschauern befanden sich, außer den Lehrern aus dem Haus des Lebens, alle jene Schüler, die Kopfärzte werden wollten. Nachdem Ptahor seinen Wein erhalten hatte, widmete er seine Aufmerksamkeit dem Sklaven, der festgebunden dasaß und trotz des betäubenden Trankes zornig um sich blickte. Ptahor gebot, ihn noch fester anzubinden, und sein Kopf wurde an einem Schädelgestell befestigt, das selbst ein Riese nicht zu verrücken vermocht hätte. Ptahor öffnete dem Mann die Kopfhaut, und diesmal achtete er genau auf die Blutung. Die Adern am Rande der Kopfhaut wurden mit Feuer behandelt, damit sie sich schlossen, und das Blut wurde mit Medikamenten gestillt. Dies mußten die anderen Ärzte besorgen, denn Ptahor wollte seine Hände nicht ermüden. Allerdings gab es im Haus des Lebens wie üblich einen Blutstiller, einen Mann, der nur durch seine bloße Anwesenheit jede Blutung in kurzer Zeit stillte. Ptahor aber wollte eine Vorlesung halten und gleichzeitig die Kräfte des Blutstillers für den Pharao sparen.

Nachdem Ptahor die Schädeldecke gereinigt hatte, zeigte er allen Anwesenden die Stelle, wo der Knochen eingedrückt worden war. Unter Verwendung eines Bohrers, einer Säge und einer Zange löste er ein faustgroßes Stück aus der Hirnschale und zeigte wiederum allen, wie sich zwischen den weißen Gehirnwindungen geronnenes Blut gesammelt hatte. Mit äußerster Vorsicht entfernte er das Blut, Körnchen um Körnchen, und zog einen in die Gehirnmasse eingedrungenen Knochensplitter heraus. Die Operation dauerte geraume Zeit, so daß jeder Schüler Gelegenheit fand, Ptahors Arbeitsweise zu verfolgen und sich das Aussehen eines lebenden Gehirnes im Gedächtnis einzuprägen. Alsdann schloß Ptahor die Öffnung mit einer im Feuer geläuterten Silberplatte, die inzwischen nach dem herausgenommenen Knochenstück geformt worden war, und befestigte sie mit kleinen Stiften an der Schädeldecke. Er nähte die Wunde zu, verband sie und sagte: »Weckt den Mann!« Der Patient hatte nämlich schon längst das Bewußtsein verloren.

Der Sklave wurde von seinen Fesseln befreit, man goß ihm Wein durch die Kehle und ließ ihn an starken Arzneien riechen. Nach einer Weile setzte er sich auf und brach in Flüche aus. Es war ein Wunder, an das man nicht hätte glauben können, ohne es selbst erlebt zu haben, denn vor der Schädelbohrung konnte der Mann weder reden noch seine Glieder bewegen. Diesmal aber brauchte ich nicht nach dem »Warum?« zu fragen, denn Ptahor erklärte von selbst, daß das eingedrückte Schädelbein und der Bluterguß ins Gehirn diese Symptome hervorgerufen hätten.

»Wenn er nicht binnen drei Tagen stirbt, kann er als geheilt betrachtet werden«, bemerkte Ptahor, »und nach zwei Wochen kann er bereits den Mann verprügeln, der ihm mit dem Stein den Schädel zertrümmert hatte. Und ich glaube nicht, daß er stirbt.«

Dann dankte er freundlich allen, die ihm behilflich gewesen waren, und nannte dabei auch mich, obwohl ich ihm nur die jeweils benötigten Instrumente gereicht hatte. Ich ahnte ja nicht, in welcher Absicht er mir diese Aufgabe anvertraut hatte. Als er mir seinen Ebenholzschrein übergab, hatte er mich zu seinem Gehilfen im Palast des Pharao ausersehen. Ich hatte ihm nun bei zwei Operationen die Instrumente gereicht, und deshalb war ich ein Sachverständiger, von dem er bei einer Schädelbohrung mehr Nutzen hatte als von den königlichen Ärzten. Doch das verstand ich nicht und geriet daher außer mir vor Staunen, als er sagte:

»Nun dürften wir reif sein, den königlichen Schädel aufzubohren. Bist du bereit, Sinuhe?«

So kam es, daß ich mich in meinem schlichten Ärztemantel in die königliche Sänfte neben Ptahor setzen durfte. Der Blutstiller mußte sich mit einer der Tragstangen als Sitzgelegenheit begnügen. Die Sklaven des Pharao eilten in so ebenmäßigem Lauf zum Kai, daß die Sänfte nicht im geringsten schwankte. Am Ufer erwartete uns das königliche Schiff des Pharao, dessen Ruderer ausgewählte Sklaven waren und in einem Takt ruderten, daß das Schiff mehr über das Wasser zu fliegen als zu gleiten schien. Vor der Landungsbrücke des Pharao wurden wir rasch in das goldene Haus getragen, und ich wunderte mich nicht über diese Eile, denn längs den Straßen Thebens marschierten bereits Soldaten, die Tore wurden geschlossen, und die Kaufleute schleppten ihre Waren in die Lagerhäuser und schlossen Türen und Fensterläden. Aus alldem konnte man erkennen, daß der große Pharao bald sterben werde.

Sinuhe der Ägypter
titlepage.xhtml
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_001.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_002.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_000.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_003.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_004.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_005.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_006.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_007.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_008.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_009.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_010.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_011.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_012.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_013.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_014.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_015.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_016.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_017.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_018.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_019.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_020.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_021.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_022.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_023.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_024.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_025.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_026.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_027.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_028.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_029.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_030.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_031.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_032.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_033.htm
Waltari, Mika - Sinuhe der Agypter_split_034.xhtml